Liebe zur Gastronomie
Die Philosophie, genauso wie sein Wirken, spiegelt sich überall im Gasthaus wider. Die alte Gaststube ist voll mit persönlichen Erinnerungen und Familienfotos, Zeitungsausschnitten, Urkunden und Bildern mit Besuchen von prominenten Gästen. Das atmosphärisch westfälische Zimmer ganz in Rot ist vor allem für Essen im Familienkreis bestens geeignet, das moderne Atrium aus Glas, Stahl und Marmor das komplette Gegenteil und mit kleinen Tischinseln versehen. Borcharding Senior hat viel Herzblut, Zeit und Geld investiert und sein Leben im Gasthaus verewigt. „Überall hängen und stehen Dinge, die mein Vater von seinen Reisen mitgebracht hat“, schmunzelt Tobias Borcharding und zeigt auf thailändische Lämpchen und asiatisches Porzellan.
Klare Nachfolge, von der alle profitieren
Tobias Borcharding, Küchenchef und ehemaliger Geselle bei Wolfgang Stein, ist seit 2009 Nachfolger in der Küche – und hat in bester Familientradition ordentlich aufgeräumt. Die vormals gehobene, gutbürgerliche Küche ist leichter geworden, Tobias Borcharding konzentriert sich auf mediterrane Speisen mit asiatischen Einflüssen. Dass man nicht von einen auf den anderen Tag alles ändern kann, sieht er als Gewinn: „Es gibt Speisen, die mussten einfach bleiben, zum Beispiel gewisse Steakvarianten oder der Haustopf. Die gibt es hier seit vier Jahrzehnten, die gehören einfach zu unserem Portfolio. Das macht unsere Speisekarte aber nochmals vielfältiger.“
Die Nachfolge ist auch ein Gewinn für den Gast in ganz anderer Hinsicht. Josef Borcharding, begeisterter Önologe und Weinliebhaber, widmet sich nun ganz seinem Herzensthema. Er erzählt: „Als Konditormeister hat mich vor allem die Patisserie sehr interessiert, und darüber bin ich überhaupt erst auf den Wein gekommen, vor allem edelsüße Varianten haben es mir früher angetan. Heute trinke ich vor allem trockene Weine.“ Am liebsten seine eigenen: 2012, zum 300-jährigen Jubiläum des Gasthauses, hat der Senior gemeinsam mit der Winzergenossenschaft Bischoffingen einen Grauburgunder kreiert, bei dem Süße und Säure sich die Waage halten, „wunderbar ausgewogen und ein idealer Speisebegleiter, den gibt es nur bei uns“. Und nicht nur den: In der hauseigenen Weinstube findet sich auch manch anderer edler Tropfen.
Junge Zielgruppen für gutes Essen begeistern
Außerdem sorgt sich Josef Borcharding um die Fachkräfte von morgen. Seit 35 Jahren ist er im IHK-Prüfungsausschuss aktiv und berichtet: „Das Personalproblem ist die größte Herausforderung für die Gastronomie. Es gibt zu wenig qualifizierte Facharbeiter. Früher hatte ich sechs, sieben Azubis in der Küche, heute bekommen wir kaum noch einen.“ Nachwuchsgewinnung ist aber nicht bloß im eigenen Berufsfeld dringend nötig – auch die Restaurantzielgruppe muss ganz neu erobert werden. „Bei jungen Menschen beobachte ich oft eine gewisse Schwellenangst, in ein klassisches Restaurant zu gehen. Man geht eher zum Italiener oder zum Griechen. Die Annahme, dass eine traditionelle Gastronomie spießig ist, müssen wir aufbrechen und ganz neue Erwartungshaltungen schaffen!“, führt Tobias Borcharding aus.
Speziell für junge Menschen hat er deshalb das „Dinner for Two“ eingeführt: Seit mehreren Jahren schon gibt es dienstags und freitags ein Vier-Gänge-Menü zum kleinen Preis. Das Kalkül geht auf. Das Angebot wird angenommen, entsprechende Gutscheine sind beliebte Geschenke.
Dinner for Two
„Wir bleiben natürlich ein ‚Gasthaus‘ mit Tradition, aber wir sind nicht ‚alt‘.“
Den langfristigen Imagewandel zumindest für das eigene Haus hat der Junior ebenfalls fest im Blick. Das ehemals „Alte Gasthaus“ firmiert jetzt ohne Adjektiv, über kurz oder lang soll der Familienname zum Markenzeichen werden und das Profil schärfen, erklärt Tobias Borcharding: „Wir bleiben natürlich ein ‚Gasthaus‘ mit Tradition, aber wir sind nicht ‚alt‘. Und wir wollen, dass sich unsere Gäste mit uns als Menschen hinter der Gastronomie identifizieren und zu ‚Borcharding‘ gehen – Gasthäuser im traditionellen Gewand gibt es schließlich genug.“ Gäste immer wieder aufs Neue gewinnen Besonders wichtig ist ihm, die Atmosphäre und den Show-Effekt nicht über das Essen zu stellen, nur um Kunden anzulocken: „Wenn ich essen gehe, dann möchte ich für mein Geld etwas bekommen, dann möchte ich, dass der Koch sich Gedanken gemacht hat und dass alles hausgemacht ist. Ich persönlich überzeuge meine Gäste mit Geschmack!“
Die Branche krankt aus seiner Sicht am breiten Convenience-Angebot: „Jede erdenkliche Speise, vom Rührei bis zur Rindsroulade, gibt es fertig zu kaufen, praktisch verpackt und grammgenau abgewogen. Ich als Koch bin doch aber meiner Kochehre verpflichtet, ohne Zusatzstoffe, Geschmacksverstärker, Tüten zu kochen. Und wenn das irgendwann einmal nicht mehr geht, dann höre ich auf.“ Stattdessen geht es darum, Gäste immer wieder aufs Neue für sich zu gewinnen: „Es gibt keine Stammkunden – nur solche, die sehr oft kommen. Wer von Stammkunden spricht, fühlt sich schnell als Überflieger und stürzt dann bestimmt ab. Man muss jeden Kunden neu umwerben und bei jedem den gleichen Standard ansetzen, egal wie oft er schon zu Gast war. Man darf sich nie zu sicher sein!“ Dafür tun Vater und Sohn alles – im Service wie in der Küche – denn: „Ein Gasthaus ohne Gäste ist wie ein Auto ohne Motor“. Und das ist die einzige Tradition in der Gastronomie, mit der beide leben können, ohne das Gefühl zu haben, sie würden stehenbleiben.